Schaust Du in den Spiegel?
Oder: Reflexionen sind Fragen
Rémy Zaugg, strenger Denker und Bild-Text-Konzeptkünstler, malte einmal ein Gemälde, auf dem steht: ICH / DAS BILD / ICH / SEHE. Das Bild sieht also auch, wie und was wir sehen. Das Bild ertappt uns – weil wir als Betrachterinnen und Betrachter es sind, die letztlich, wie Marcel Duchamp richtig postulierte, das Kunstwerk vollenden. Mit unserem Blick. Mit unseren Assoziationen. Mit Emotionen und Reflexionen.
Die Ausstellung Look in The Mirror ist für dieses komplexe Wechselspiel ein Paradigma. Was sehen wir? Wir sehen, wie in einem Spiegel, vor allem uns selbst.
Mit Skepsis – das gehört zu den Spiegeleien (keine Spiegelfechtereien), aber die Skepsis muss gesagt sein – betrachtete ich zuerst die Ausstellung. Ist das eine Malerei, wie ich sie kenne, wünsche, erhoffe? Oder widerspricht mir jedes Bild und fordert mich deswegen dazu auf, mich damit auseinanderzusetzen, auch mit den vermeintlich «sicheren» Kategorien einer «guten» Malerei – was nicht «harmlose» Malerei meint?
Fragen also. Und Fragen, sagen wir es derart apodiktisch, Verunsicherungen sind gut.
Sehen wir in den Bildern von Eric Winarto die zweifellos präsente Tradition chinesischer Malerei, die die Leerräume mit Bedeutung auflädt, wie das der Essayist François Cheng in seinem Buch Vide et plein erörterte? Oder sehen wir statt der «Ruhe» eher das Chaos, den Tsunami, die Apokalypse?
Sehen wir auf den Gemälden von Nguyen Xuan Huy zuerst die Deformation oder die Sinnlichkeit, die sich über die anatomisch perfekt modellierten Körper legt? Sehen wir in den schiessenden Frauen jene berühmte Fotografie aus dem Vietnamkrieg, die einen US-Marine zeigt, der, lässig am Fenster sitzend, irgendwen ins Visier nimmt? Sehen wir Balthus oder François Boucher, den französischen Rokoko-Eros-Maler, also Reflexionen der Malerei-Tradition?
Sehen wir bei Isabelle Kriegs Skulpturen Brüste oder gar überdimensionierte Konfiserie? Und bei ihren Leuchten: Leuchten da welche Erinnerungen an welche Hotelzimmer auf? Oder sehen wir, im genauen Wortsinn der Fotografie, simpel und einfach konzeptionell präzise angelegte Licht-Bilder?
Schockieren die zweifellos pornografischen Malereien von Florian Bühler? Widert die Food-Pornografie[1] an oder fasziniert die sichere Malerei? Sehen wir die Dinge/die «Realität» oder die Tatsache, dass hier einfach Farben auf einem Träger zu sehen sind? Sehen wir bei Bühler, wie auch bei Marco Nicolas Heinzen, die unendliche Möglichkeit von Bildern, von Bildvorlagen, die das Internet zvg/zur Verfügung stellt? Wo ist (freilich abgebildete) Abbild-Realität, wo ist eine überbordende Fantasie, wie sie ein Hieronymus Bosch – aus welchen Quellen auch immer schöpfend – zum Bild, zum Albtraum machte, vor offenen oder verschlüsselten Obszönitäten keineswegs zurückschreckend?
Und gilt, zusammenfassend, ein Satz aus der Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die in Bezug auf den Marquis de Sade schrieben, dass nur die Übertreibung wahr sei, also auf den Kern der Dinge und der Zustände verweise?
Konrad Tobler
[1] Interessant ist das -grafie bei den Begriffen Foto-Grafie und Porno-Grafie. Grafie ist das Grafein, das Schreiben – im ersten Fall das Schreiben/Zeichnen mit Licht, im zweiten – nach altgriechischer Tradition – das Schreiben/Aufzeichnen von «Hurereien», Obszönitäten: von «schmutzigen» Dingen (also auch von: Menschenhandel, Geldwäscherei, Drogen- und Waffenhandel, Kunstschiebereien).